Authentizität – eine neue Form, um über gut und schlecht zu urteilen?

von | 08.04.2022 | Selbstkenntnis

Meine ich nur oder erlebt der Wert Authentizität gerade einen echten Hype? Zumindest im Trainingskontext landen wir eher früher als später dabei, wie authentisch jemand auftritt. Hier wird sie jemandem ab- dort jemand zugesprochen. Und immer schwingt dabei eine ordentliche Portion Wertung mit. Mir stößt das zunehmend auf.

Mir wird Authentizität meist zugesprochen und immer häufiger finde ich es gar nicht so toll. Stimmt schon, ich kümmere mich heute nicht mehr um Dinge wie ich das noch vor 18 Jahren bei meinen ersten Trainings getan habe. Kleiderordnung, was man sagen darf, was nicht, das kümmert mich heute weniger. Und doch stellt meine Rolle gewisse Anforderungen und die gilt es zu erfüllen, wenn das Ziel erreicht werden soll. So bin ich manchmal nicht so authentisch wie mir lieb wäre, und verkneife mir die ein oder andere hochgezogene Augenbraue. Heute widme ich meinem wachsenden Unmut zu diesem Thema wenigstens einen Blogartikel.

Was bedeutet Authentizität?

Authentizität meint Echtheit. Etwas, was unverfälscht ist. Bei einem Dokument kann man das ganz gut nachvollziehen *, bei einem Menschen… wage ich das zu bezweifeln. Zu viele Faktoren beeinflussen unsere Echtheit. Vielleicht, wenn ich einen Menschen wirklich gut und lange kenne. Wenn ich das ganze Potenzial an menschlicher Wundertüte kennenlernen und erleben durfte. Dann habe ich möglicherweise einen Einblick, was ursprünglich, was echt an einem anderen Menschen ist, was weniger. 

Und mal ehrlich, kaum jemand kann über sich selbst sicher sagen: DAS bin ich! SO bin ich! Kannst du es? Wie sollte es jemand anderes über uns sagen können?

Um zu wissen, wer wir sind, um all die wunderbaren Facetten in uns kennenzulernen braucht es jahrelange Reflexion. Immer wieder den Mut, sich an die eigene Nase zu fassen, das eigene Denken und Handeln zu hinterfragen. Eingefahrene Muster zu sprengen, um zu erkunden, ob etwas Anderes nicht noch besser zu uns passt. Tja und weil es das Leben und das Lernen so von uns fordert, braucht es auch das Durchhaltevermögen, um bei alledem immer wieder von vorne zu beginnen. Niederschläge, blaue Flecken, blutige Nasen – egal, auf in die nächste Runde der Suche nach uns selbst und dem was für uns authentisch ist.

Wie anmaßend scheint es da, jemand Anderem Authentizität zu- oder abzusprechen.

* Wird vermutlich auch immer schwieriger.

Ich bin ein Fan der Authentizität.

Damit das hier nicht falsch rüber kommt – ich bin ein echter Fan dieses echt seins

Und manchmal gibt es Menschen, da springt einen die gespielte Rolle förmlich an, da kann ich das Feedback absolut nachvollziehen. Nur eben nicht, wenn unter dem Deckmäntelchen der Authentizität über gut und schlecht geurteilt wird. Noch weniger mag ich es allerdings, wenn sie auch herhalten muss, um das eigene Verhalten zu überdecken oder gar entschuldigen.

So habe ich zum Beispiel beobachtet, dass das Fehlen von authentischem Verhalten häufig von Menschen angeprangert wird, von denen auch ich den Eindruck habe, sie könnten gerne mal hinter ihrer Fassade hervorschauen. 

Auch schwant es mir, Authentizität ist nur dann gefragt, wenn sie dem entspricht, was erwartet wird und gefällt. Witzig, oder?

Aber der für mich eigentliche Grusel entsteht, wenn Authentizität als Freifahrtsschein missbraucht wird. „Ich bin eben so“ tönen und meinen, damit habe man das Recht, eine Ego-Nummer zu fahren. Ob das nun heißt, sich völlig daneben zu benehmen, die Rolle (zum Beispiel Führungskraft oder im Training) nicht zu füllen oder die Flinte ins Korn zu schmeißen, noch bevor man die eigene Reise überhaupt angetreten ist.

Authentizität ist ein Entwicklungsprozess.

Aus meinem Nähkästchen. Irgendwann so 2010 kam ich auf die witzige Idee, mir meine Haare wachsen zu lassen. Round about neun Jahre blieb das so. Das war prima, das war gut und nichts hat mich stutzig gemacht. Auch bekam ich von Außen kein Feedback, dass da doch irgendwas nicht stimme oder gar nicht authentisch sei.

Eines Morgens schaute ich in den Spiegel und dachte mir, wer bitte ist denn das in MEINEM Spiegel? Also ICH bin das NICHT! Einfach so. Von heute auf morgen. Ich also zum Friseur und ab mit dem Gestrüpp. Bitte recht strubbelig, mit Stacheln und reichlich Gel. Das ist nun 3 Jahre her und bis heute freuen sich meine Friseurin und ich über das Erwachen meinerseits und dann saust auch schon der Rasierer über meine Schläfen. DAS bin ICH! Zumindest jetzt, hier und heute.

Authentizität ist nicht statisch! 

Authentizität ist viel mehr dynamisch und vor allem ein Entwicklungsprozess

Und so würde ich heute sagen, diese langen (o.k. längeren) Haare waren sowas von nicht authentisch aber… damals schon, heute nicht.

Was bedeutet denn echt für uns? Wer sind wir, wenn uns niemand sieht?

Es braucht Erfahrung, um immer mehr zu der Person zu werden, die wir sind, um rauszufinden, was da vielleicht auch möglich ist. Authentizität dürfen wir uns ein Leben lang erobern und bekommen sie nicht einfach in einem Wochenendseminar hinterhergeworfen.

Bevor wir Menschen Authentizität abschreiben…

Es gibt immer einen Grund, weswegen wir uns nicht ganz zeigen.
Vielleicht, weil wir uns selbst noch nicht ganz gefunden haben, aber vielleicht liegt es auch an DIR? 

Sich authentisch zu zeigen heißt auch, sich verletzbar zu machen und nicht selten bedeutet es, bisherige Grenzen zu überschreiten, mutig voranzuschreiten. Da ist es doch sehr vernünftig, erstmal zu überlegen, wie viel wir von uns wirklich zeigen wollen und können.

Wie wäre es daher, wenn wir statt zu sagen „Du zeigst gar nicht wie du wirklich bist“, es bemerken und versuchen die Beziehung so zu gestalten, dass Authentizität möglich und erlaubt ist?

Und dann wären da noch andere gute Gründe, weswegen wir vielleicht den Eindruck gewinnen, der Mensch vor uns ist gerade nicht ganz sie oder er selbst.

  • Krank (Mit Zahnschmerzen ist wohl niemand wirklich authentisch)
  • Umstände (Bankangestellte mit zerrissenen Jens? Ich fände das ja cool, aber…)
  • Rolle (Führung und Kumpel stellen nun mal andere Anforderungen) 

Und mit all den Gedanken ist es doch absolut in Ordnung, wenn wir mal mehr oder weniger authentisch unterwegs sind. 

Der einzige Maßstab sollte sein – finde ich – dass wir immer mehr bei uns selbst ankommen. Dass wir immer häufiger die Schuhe des Lebens tragen, die uns wirklich passen und gefallen. 

Wir dürfen in unsere Authentizität hineinwachsen und sind gut damit beraten, erstmal bei unserem eigenen ECHT SEIN zu beginnen bevor wir die Authentizität der Anderen beurteilen.

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Britta Ludwig

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